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Einführung des Vorsitzenden des Kreisausländerbeirates Offenbach Corrado Di Benedetto

- Es gilt das gesprochene Wort! -

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

meine Aufgabe ist es, Sie in die heutige Thematik unserer Fachtagung einzustimmen.

"Mehrsprachigkeit als Ressource und Bereicherung"

Sie sehen, das Thema ist von uns unmissverständlich positiv formuliert worden. Wir haben darauf großen Wert gelegt, meine Damen und Herren, auch um deutlich zu machen, dass sich unser Landkreis zur Mehrsprachigkeit bekennt und sich damit deutlich von der gängigen Praxis des monolingualen Ansatzes abheben möchte.

Dies ist in Anbetracht der laufenden – und wie ich meine undifferenzierten – Debatte über die Sprachförderung sogenannter „Migrantenkinder" mit der damit verbundenen Verbannung ihrer Muttersprachen aus unseren Schulen, nicht selbstverständlich.

Deutschland ist ein Zuhause für viele Menschen und für viele Sprachen. In der Einladung zur heutigen Fachtagung heißt es: „Deutschland verfügt über eine Migrantenpopulation aus unterschiedlichen Ländern. Eine Vielfalt, die sich geradezu als Ressource anbietet, vorausgesetzt es werden Konzepte mit Weitsicht entwickelt und umgesetzt."

Wie gehen wir in unserem de facto Einwanderungsland damit um, meine Damen und Herren?

Auch wenn wir es in Deutschland für normal halten, dass Kinder einsprachig aufwachsen, gibt es in unserem Land eine große Zahl von ihnen, für die nicht Einsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit die Normalität darstellt. Nahezu ein Viertel aller Kinder in Deutschland wachsen mit zwei oder auch mehr Sprachen auf.

Eine Familie – drei Sprachen – geht das, und ist das gut für unsere Kinder?

Linguisten waren sich lange Zeit in der Beantwortung dieser Frage uneins. Von Schäden für die kognitive Entwicklung war die Rede, und davon, dass die Kinder am Ende keine Sprache wirklich beherrschen würden. Dabei ist Mehrsprachigkeit weltweit eher die Regel als die Ausnahme.

Die Fragestellung sollte deshalb meines Erachtens eine andere sein:

Welche Vorraussetzungen müssen erfüllt sein, damit der Erwerb mehrerer Sprachen gelingt?

Es ist nachweislich falsch, einen Gegensatz zwischen dem Erlernen der deutschen Sprache und der Herkunftssprache zu sehen. Kinder lernen nicht dadurch besser Deutsch, dass sie keinen Türkisch- oder Italienischunterricht erhalten. Wenn sie einen Zusammenhang herstellen können zu ihrem Türkisch oder Italienisch, lernen sie auch besser Deutsch.

Sprachfähigkeit ist wie ein Muskel, der durch den Gebrauch von Sprachen verstärkt wird. Das Training jeder Sprache fördert auch die anderen.

Es darf den zweisprachig aufwachsenden Kindern aber nicht allein überlassen bleiben, den Zusammenhang zwischen Deutsch und der Sprache ihrer Familie herzustellen. Dies können die Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen alleine nicht schaffen.

Vielmehr ist es primär Aufgabe der Schule sicherzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler einen Nutzen aus ihrer Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit ziehen können, wobei ich hier ausdrücklich auch auf die elterliche Verantwortung verweisen will.

Vielfach wird angenommen, dass das Aufwachsen mit zwei Sprachen hohe Anforderungen an ein Kind stellt und Zweisprachigkeit eine besondere Begabung voraussetzt. Die Misserfolge sogenannter „Migrantenkinder" in der Schule gelten als Beweis dafür, dass ihre Muttersprachen sie behindern, dass Zweisprachigkeit sie überfordert.

Doch nach den Ergebnissen der internationalen Mehrsprachigkeitsforschung ist zweisprachiges Aufwachsen kein Anlass zur Befürchtung eines gestörten Spracherwerbs. Störend wirkt sich dabei etwas anderes aus, nämlich die Vorstellung, dass Einsprachigkeit der Normalfall sei, an dem sich alles andere zu orientieren und zu messen hat.

So werden die bis zum Schuleintritt von zweisprachigen Kindern erworbene Fähigkeiten in der Schule nicht nur nicht weiter berücksichtigt, sondern darüber hinaus negativ bewertet. Volkswirtschaftlich gesehen, wird eine große Ressource verschwendet, während gleichzeitig mit der Einführung des frühen Englischunterrichts (in den meisten Bundesländern ab der 3.Klasse) genau das aufgebaut werden soll, was zweisprachige Kinder bereits in die Schule mitbringen,

Wie zum Beispiel bei europäischen Nachbarn sollten wir auch hierzulande Mehrsprachigkeit als Ressource verstehen, die einen individuellen und einen gesellschaftlichen Wert darstellt. Obwohl die Erziehung zur Mehrsprachigkeit eigentlich eine alte Forderung des Europarats und der Europäischen Union ist, würde sie in Deutschland eine erhebliche Umorientierung der Schule verlangen.

Soll sich etwas ändern, meine Damen und Herren, an den schlechten Ergebnissen unserer Schulen, wollen wir die Bildungschancen gerechter verteilen und den gesellschaftlichen Frieden sichern, so muss sich die Schule umorientieren. Sie muss nüchtern erkennen, was die Schülerinnen und Schüler mitbringen, um dieses Potential auszubauen; und was ihnen fehlt, um es ihnen beizubringen.

In diesem Zusammenhang verweise ich gerne auf das im Jahre 2002 erschienene Buch mit dem Titel: "Institutionelle Diskriminierung" des Frankfurter Migrationsforschers, Prof. Olaf Radtke, der nicht nur einigen Schulämtern sondern auch Wissenschaftsministerien wohl ein Dorn im Auge sein durfte.

Professor Radtke fordert unverblümt, dass das „Deutsche System-Schule" sich unvoreingenommen auf das Humankapital – er nennt es auch „Bildungsreserve Ausländer/innen" – einstellen soll, und dementsprechend das „System Schule" umzugestalten, damit es nicht nur der deutschen Volkswirtschaft zugute kommt, sondern auch dem einzelnen, benachteiligten Individuum unserer Gesellschaft eher eine lebenswerte Zukunft ermöglicht.

Er stellt weiterhin die in meinen Augen sehr ernstzunehmende These auf, das deutsche Schulsystem selbst, sei in erster Linie dafür verantwortlich, dass ausländische Kinder und Jugendliche im Vergleich zu ihren deutschen Gleichaltrigen im Schulischen so schlecht abschneiden.

Ich will Ihnen einen Kernsatz aus dem besagten Buch zitieren, das den auch schon für sich sprechenden Untertitel trägt: „Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule". Der Kernsatz lautet: „Die Erklärung für mangelnden Schulerfolg von Migrantenkindern (auch er benutzt leider diesen grausigen Begriff) wird in der öffentlichen Diskussion überwiegend in Defiziten der betroffenen Kinder, ihrer familiären Umwelt und Kultur gesucht. Der Ort seiner Herstellung, die Schule ………… bleibt außer Betracht", so Professor Radtke.

Mehrsprachigkeit, meine Damen und Herren, wird immer noch als Defizit, als Grund der schlechten Bildungsbeteiligung ausländischer Kinder und Jugendlicher angeprangert. Deshalb ist in der aktuellen Debatte fast ausschließlich die Rede davon, dass ausländische Kinder die deutsche Sprache erlernen müssen. Gewiss ist dies notwendig und unerlässlich, das möchte ich hier ausdrücklich betonen!

Doch reicht es für eine Integration wirklich aus?

Ich meine, meine Damen und Herren, dass mit den Erlernen der deutschen Sprache alleine, so determinant dies auch ist, der sehr schwierige, hochkomplexe gesellschaftliche Prozess der Integration nicht zu gestalten ist.

Solange ernstzunehmende Partizipationsmöglichkeiten insbesondere von hier auf Dauer lebenden Ausländern, dadurch gekennzeichnet sind, dass es Menschen erster, zweiter und dritter Kategorie gibt, solange wird auch die „Wunderwaffe Sprachförderung" nicht viel ausrichten können.

Und mit Maßnahmen a lá „Mama lernt Deutsch", meine Damen und Herren, kommen wir auch nicht signifikant weiter.

„Mehrsprachigkeit als Ressource und Bereicherung"

Dazu ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt:

Zunehmend wird im Zuge der Globalisierung und der Europäischen Integration Mehrsprachigkeit als wichtige Ressource und Bereicherung entdeckt. Unternehmen und Institutionen mit internationaler Ausrichtung legen großen Wert auf Mehrsprachigkeit und die damit verbundene Kultursensibilität.

Nicht umsonst bedienen sich zum Beispiel die großen Firmen, auch hier in Deutschland, des inzwischen weltweit praktizierten Ansatzes des „Diversity Managements".

„Diversity Management" setzt auf Vielfalt in Unternehmen. Die Kreativität und das Potential heterogenen Teams werden für die Unternehmen produktiv genutzt. Statt Anpassung an eine Leitkultur werden Randgruppen als Ressource erkannt. Dies ermöglicht Unternehmen größere Flexibilität und Innovationsfähigkeit.

„Bedeutsam ist", sagt zum Beispiel Diversity-Manager bei Ford-Deutschland, Hans Jablonski, „dass Diversity kein Defizitprogramm ist und Benachteiligte fördert, sondern dass wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer Vielfalt wertschätzen. Wir wollen eine Kultur, in der sich alle wertgeschätzt fühlen und nicht nur toleriert werden. Diese Gruppen" so der Ford-Manager weiter „können der Firma Sichtweisen anbieten, die sonst keiner hat."

In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, fällt mir ein schönes Zitat des 1. König von Ungarn, Stephan I. aus dem zehnten Jahrhundert ein: „Ein Land mit nur einer Sprache und einer Sitte ist schwach und gebrechlich. Darum ehre die Fremden und hole sie ins Land."

Erlauben Sie mir nun, bevor ich Ihnen abschließend ein wunderbares Gedicht eines italienischen Pädagogen vortragen darf, meine Einführungsrede auch für einige Danksagungen zu nutzen.

Es ist gewiss nicht selbstverständlich, dass insbesondere in Zeiten knapper Kassen, die überaus wichtige Aufgabe der Integration mit System und Ernsthaftigkeit weiter betrieben wird.

Landrat Peter Walter hat bei der Einbringung des letzten Haushalts hier in diesem Kreistagsplenarsaal, in seiner Haushaltsrede mutig die Aufgabe der Integration, als eine der Prioritäten unseres Landkreises deklariert. Und dass es nicht nur eine verbale Äußerung ist, hat unser Landkreis in den vergangenen Jahren faktisch bewiesen.

Hierfür will ich an dieser Stelle im Namen des Kreisausländerbeirates von Herzen Danken, Ihnen, verehrter Landrat und allen anderen, die sich in der Verwaltung und der Kreispolitik für diese wichtige Aufgabe stark gemacht haben. Und lassen sie uns weiterhin so konstruktiv und vertrauensvoll zusammenarbeiten.

Danken möchte ich auch unseren Veranstaltungspartnerinnen für diese dreiteilige Fachtagungsreihe „Bildung und Integration im Kreis Offenbach".

In besonderer Weise, Frau Elke Tomala-Brümmer, von der Stabstelle Projektsteuerung Schule, und Frau Selver Erol, der Leiterin des vor zwei Jahren in unserem Landkreis institutionalisierten Integrationsbüros. Danke auch an unsere Moderation, Frau Petra Diebold vom Hessischen Rundfunk.

Ein herzliches Dankeschön geht natürlich auch an unsere Referentinnen und Referenten, die von Nah und Fern, heute zu uns gekommen sind. Wir sind auf Ihre Ausführungen sehr gespannt.

Zum Schluss, meine Damen und Herren, ein Gedicht vom Pädagogen Loris Malaguzzi aus dem Jahre 1985. Der Titel lautet: Die hundert Sprachen

Vortrag Gedicht………………

Die hundert Sprachen
Ein Kind hat
100 Sprachen
100 Hände
100 Gedanken
100 Weisen
zu denken,
zuspielen und zu sprechen.

Immer 100 Weisen
zuzuhören, zu staunen und zu lieben
100 Weisen
zu singen und zu verstehen
100 Welten zu entdecken
100 Welten zu erfinden
100 Welten zu erträumen.

Ein Kind hat 100 Sprachen
doch es werden ihm 99 geraubt.
Die Schule und die Umwelt
trennen ihm den Kopf vom Körper.
Sie bringen ihm bei
ohne Hände zu denken
ohne Kopf zu handeln
ohne Vergnügen zu verstehen
ohne Sprechen zuzuhören
nur Ostern und Weihnachten zu lieben und zu staunen.

Sie sagen ihm
dass die Welt bereits entdeckt ist
und von 100 Sprachen
rauben sie dem Kind 99

Sie sagen ihm
dass das Spielen und die Arbeit
die Wirklichkeit und die Phantasie
die Wissenschaft und die Vorstellungskraft
der Himmel und die Erde
die Vernunft und der Traum
Dinge sind, die nicht zusammengehören.
Sie sagen also
dass es die 100 Sprachen nicht gibt.
Das Kind sagt:aber es gibt sie doch.
(Loris Malaguzzi, Reggio Emilia, 1985)

"Mehrsprachigkeit als Ressource und Bereicherung"

Meine Damen und Herren, ich hoffe es ist mir gelungen, Sie auf die heutige Tagung einzustimmen und wünsche uns allen einen guten Verlauf.

Verehrter Professor Filtzinger, carissimo amico Otto, adesso siamo in attesa della tua relazione introduttiva, che seguiremo certamente con attenzione.

Nun sind wir sehr gespannt auf das Einführungsreferat von Herrn Professor Filtzinger.

Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!